Die sechziger Jahre

Ausdruck seiner Kämpfernatur und unvergessen bleiben die Etappen der Tour de France 1961, die der mittlerweile zu den Profis gewechselte Dieter Kemper mit einem "Turban" bestreitet. Die nach einem Sturz erlittenen Kopfverletzungen hätten manchen Rennfahrer den Wettbewerb beenden lassen, nicht aber Dieter Kemper. Trotz starker Blutungen lässt er sich lediglich einen Kopfverband anlegen, um auf jeden Fall die Etappe beenden und die Tour de France fortfahren zu können. Die Bilder gehen um die Welt. Schon am nächsten Tag findet sich der Mann mit dem "weißen Turban" auf der Titelseite der L' Equipe wieder und angesichts seiner Härte wird ihm auch von den Franzosen Bewunderung zuteil.

Neben nationalen und internationalen Erfolgen auf der Straße, so unter anderem dem Gewinn der Deutschen Kriteriumsmeisterschaft, Etappensiegen bei der Deutschlandrundfahrt, der Tour des Suisse und den "Vier Tagen von Dünkirchen" zieht es Dieter Kemper immer mehr zum Bahnrennsport. Hier kann er dann in der Folgezeit seine wohl größten Triumphe feiern, wozu sicherlich die insgesamt sieben Europameistertitel - errungen bei den Stehern und im Zweiermannschaftsfahren - sowie die 26 siegreich beendeten Sechstagerennen wie auch die vier Deutschen Meistertitel im Verfolgungsfahren gehören.

1961 vollzieht sich im RV Sturmvogel ein nachhaltiger Wechsel. Werner Siebert übernimmt von Wilhelm Thiele die Funktionen des Trainers und sportlichen Leiters. Mit großer Sachkunde, Fleiß, Einfühlungsvermögen aber auch mit Zielstrebigkeit und der erforderlichen Konsequenz führt Werner Siebert immer wieder neue Rennfahrer zur Spitze.

In der folgenden Zeit gelingt es dann auch wieder einer Mannschaft des RV Sturmvogel 1925 Dortmund e.V. von sich reden zu machen. So gewinnen die Amateure Karl-Heinz Moch, Manfred Kirsch, Norbert Leiske und Horst Markowski im Vierermannschaftszeitfahren über 100 Kilometer zunächst die Bezirksmeisterschaft, um nachfolgend bei der in dieser Disziplin ausgetragenen Landesverbandsmeisterschaft in Dortmund-Mengede einen ausgezeichneten zweiten Platz zu belegen. Mit dieser tollen Platzierung erreichen die vier "Sturmvögel" gleichzeitig die Qualifikation für die Deutsche Meisterschaft, wo für sie im Endklassement schließlich ein Platz im Mittelfeld notiert werden kann.

Norbert Leiske entwickelt sich zwischenzeitlich zum erstklassigen Straßenfahrer. Besonders im Mannschaftszeitfahren, eine äußerst kraftraubende und wohl mit die härteste Disziplin im Straßenrennsport, kann der "Tempobolzer" auf sich aufmerksam machen. Aber nicht allein deshalb ist er der nächste Fahrer des RV Sturmvogel, der das Nationaltrikot tragen darf. Norbert Leiske gewinnt daneben auch so bedeutende Straßenklassiker wie die Saarlandrundfahrt, Rund um Düren oder den "Großen Rück-Preis" in Oberhausen. Der Sieg in Oberhausen stellt den Fahrer des RV Sturmvogel nach Überqueren der Ziellinie aber noch vor eine besondere Schwierigkeit. Üblicherweise werden zur damaligen Zeit keine Bar-, sondern Sachpreise vergeben Ob Norbert Leiske daran gedacht hat, dass der Begriff "Großer Preis" auch gegenständlich verstanden werden kann? Auf jeden Fall ist er bei der Ehrung ziemlich verblüfft, als man ihm für den Sieg eine Waschmaschine überreicht. Aufgrund seiner vielen Fähigkeiten wird Norbert Leiske nun vom Bund Deutscher Radfahrer in die Nationalmannschaft bestellt. Nach seiner Bewährungsprobe in der Fleche du Sud in Luxemburg, wo er bester Deutscher wird, stellt der Bundestrainer das Mitglied des RV Sturmvogel für die Tour de l'Avenir auf. Bekanntermaßen treffen bei dieser Rundfahrt, die berechtigt auch "Tour de France der Amateure" genannt wird, nur die Besten ihrer Klasse aufeinander, so dass allein schon die Nominierung für die Stärke von Norbert Leiske spricht. Zwar verhindert ein schwerer Sturz eine gute Platzierung, aber die Tatsache, dass der "Sturmvogel" die Rundfahrt überhaupt beenden kann, zeigt gleichfalls seine überragende Leistung.

Aber nicht nur im Amateurbereich sorgen Vereinsfahrer für Furore. So gelingt es dem RV Sturmvogel mit Friedhelm Ulkowski, Willi Flohr, Joachim Hinrichs und Fritz Schauer eine neue erfolgreiche Jugendmannschaft zu formen.

Seine erste Bewährungsprobe besteht dieser Vierer 1961 mit dem Gewinn der Landesmeisterschaft in Nordrhein-Westfalen. Als einer der Mitfavoriten bricht man im gleichen Jahr nach Berlin auf, wo der Titel des Deutschen Meisters im Mannschaftszeitfahren vergeben wird. Kurz vor den Titelkämpfen leidet bedauerlicherweise Fritz Schauer unter einem grippalen Infekt, der ihm merklich zusetzt. Derart geschwächt geht der Dortmunder Vierer dennoch mit Fritz Schauer in den Wettbewerb und schlägt sich unter diesem Umständen hervorragend. Lediglich 27 Sekunden verlieren die favorisierten Dortmunder "Sturmvögel" auf den neuen Deutschen Meister aus Herpersdorf, die Vize-Meisterschaft aber kann ihnen keine andere Mannschaft streitig machen.

1962 erlebt die Dortmunder Stadtmeisterschaft ein Novum: dreißig Jahre nach dem Vater gewinnt Hans-Martin Bautz, Sohn des "Tour de France" - Kämpen Erich Bautz, diesen Wettbewerb in der Jugendklasse A. Am Ende seiner ungefähr zehnjährigen Karriere kann der Sprössling von Erich Bautz auf annähernd 150 Siege und als Höhepunkt seiner sportlichen Laufbahn auf eine deutsche Meisterschaft zurückblicken. Diese holt er sich 1968 gemeinsam mit Ernst Claußmeyer, Gründer des ehemaligen Rennteams Olympia Dortmund und heutigem Organisator des Dortmunder Sechstagerennens, im Zweiermannschaftsfahren auf der Bahn.

Die gute Ausbildung der Vereinsjugend beschert dem RV Sturmvogel 1925 Dortmund e.V. im Jahre 1968 weitere schöne Erfolge. So ist es in der Jugendklasse A wiederum ein Vierer, der neuerlich Titel gewinnen kann. Mann muss hier in der Mehrzahl sprechen, weil die Fahrer Bodo Beucke, Wilfried Lanski, Peter Reich, Bernd Hasse und Dieter Strumberg derartig vielseitig sind, dass sie den Landesmeistertitel sowohl im Straßen- als auch im Bahnrennsport erobern.

Ebenfalls 1968 machen mehrere Fahrer des RV Sturmvogel in Hannover-Herrenhausen auf sich aufmerksam. Bei einer heute nicht mehr ausgetragenen Disziplin scheinen die Nachwuchsfahrer im grünen Trikot unschlagbar zu sein. Es ist das Zweiermannschaftszeitfahren auf der Straße. In einem stark besetzten Wettbewerb über die für Jugendliche ungewöhnlich lange Distanz von 50 Kilometern belegen gleich zwei Vereinsmannschaften vordere Plätze. Bernd Hasse und Winfried Lanski stehen als Sieger ganz oben. Bodo Beucke und Wilhelm Herrmann werden 6. Offensichtlich findet auch Mario Sobottka Gefallen an diesem Wettbewerb, denn schon im folgenden Jahr fahren Bodo Beucke und Mario Sobottka mit einer herausragenden Leistung ihre Konkurrenten in Grund und Boden und stehen diesmal auf dem Treppchen ganz oben.

Solche Erfolge stellen sich selbstverständlich nicht von selbst ein. Nur hartes Training und eine große Selbstdisziplin ermöglichen derartige Triumphe. Es mag zunächst nicht so ausgesehen haben, aber wahrscheinlich hat auch die nachfolgend beschriebene "Trainingseinheit" ihren Beitrag geleistet. Mit mehreren Rennfahrern begibt sich Werner Siebert zu dieser Zeit in ein winterliches Trainingslager. Im Allgäu sollen zur Erarbeitung der für Rennfahrer erforderlichen Grundlagenausdauer auf Langlaufskiern viele Kilometer abgespult werden.

Nach einem ordentlichen Frühstück begibt man sich beinahe täglich zu Einheiten von drei bis vier Stunden Länge auf die Bretter. Eigentlich verläuft dies auch immer reibungslos. Nur einmal, da hat man wohl eine Wegabzweigung verpasst, denn irgendwann nach ungefähr sechs Stunden Laufzeit steht man orientierungslos mitten in den Wäldern des Allgäus. Erschöpft und mit einem "Bärenhunger" läuft man in der Hoffung weiter, irgendwann auf eine Straße zu treffen. Tatsächlich, nach weiteren anderthalb Stunden Laufzeit erreicht man eine Fahrbahn und kann einen vorbeikommenden Fahrzeugführer nach dem rechten Weg fragen. Beim Anblick des rettenden Fahrzeugs macht ein abgekämpfter und der Verzweiflung naher Rennfahrer seinem Ärger Luft und ruft für alle Beteiligten deutlich vernehmbar: "Gott sei Dank, jetzt kann einer mit dem Auto zur Herberge fahren und den Bus holen. Ich mache das schon. Ich hole euch alle ab - nur den Siebert, den nehme ich nicht mit, den lasse ich hier." Als bei dem Fahrzeugführer in Erfahrung gebracht wird, dass man mit den Skiern in einer halben Stunde die Pension erreichen kann, wird auch noch diese Distanz auf Brettern zurückgelegt. Nach einem nun acht Stunden dauernden Auslauf ohne Verpflegung fallen alle Rennfahrer völlig entkräftet in ihre Betten. Niemand findet mehr Zeit seine durchgeschwitzte Skibekleidung abzulegen oder etwas zu essen beziehungsweise zu trinken. Alle verfallen sofort in einen Tiefschlaf. Doch schon des Nachts entsteht in der Herberge auf einmal Unruhe. Beim Nachsehen traut Werner Siebert seinen Augen nicht. Alle Rennfahrer - noch immer in Skibekleidung - sitzen gemeinsam in der Küche und plündern den gesamten Lebensmittelvorrat. Erschreckt schauen die Rennfahrer beim Anblick von Werner Siebert auf. Doch nach einem kurzen Lächeln beteiligt sich auch der Trainer an der Vernichtung von Schinken, Käse und anderen Köstlichkeiten.